Positionspapier Demokratieförderung jenseits von Extremismus, Präventionsparadigma und formierter Zivilgesellschaft
Warum mit rückwärtsgewandten Ansätzen und Definitionen keine Analyse gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und keine nachhaltige Demokratieförderung und -Gesetzgebung gelingen kann.
Zum „Diskussionspapier von BMFSFJ und BMI für ein Demokratiefördergesetz“ vom 25.02.2022
Einleitung
Das BMI hat zusammen mit dem BMFSFJ am 25.02.2022 ein „Diskussionspapier von BMFSFJ und BMI für ein Demokratiefördergesetz“ am 25.02.2022 vorgelegt. Das Papier ist Teil eines Prozesses zu einem Demokratiefördergesetz,zu dem auf der Seite des BMFSFJ sowie in der Pressemitteilung des BMI (2022) informiert wird. Dieses hier vorliegende Positionspaper setzt sich kritisch und konstruktiv mit dem Diskussionspapier, der Pressemitteilung und dem Zusammenhang des Demokratiefördergesetz-Prozesses auseinander. Die geschieht um zu zeigen, dass unzureichende Begrifflichkeiten und Problemrahmungen die Entwicklungen zu und vor allem das Gesetz selber in ein höchst problematisches Fahrwasser bringen können. Die Grundannahme dazu ist: Theorien, Begriffe, und Methoden, bestimmen unseren Zugang zur Wirklichkeit. Wenn diese Begriffe, wie in weiteren Verlauf zu zeigen sein wird, in dem Diskussionspapier unzureichend, unterkomplex oder realitätsverzerrend genutzt werden, kann das massive Auswirkungen auf die vermeintliche Bekämpfung von antidemokratischen Positionen, neonazistischen Aktivitäten, autoritären Entwicklungen sowie im allgemeinen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Ideologien der Ungleichwertigkeit in der Gesellschaft haben. Es steht also einiges auf dem Spiel: und zwar die Frage, ob ein Gesetz die Probleme so benennt, wie sie auch aus Sicht der Expert_innen, der Zivilgesellschaft oder gar der Opfer und Betroffenen darstellen – oder eben nicht. Dieses Papier arbeitet aus diesen drei Perspektiven eine Kritik der Begrifflichkeiten und Problemdefinitionen heraus. Am Ende werden programmatische Vorschläge gemacht, die im weiteren Gesetzesprozesses Berücksichtigung finden sollten.
- Gesellschaftliche Wirklichkeit: Idealisierung der Bundesrepublikanischen Zustände
Das Papier des BMI und BMFSFJ beginnt gleich mit einer fragwürdigen Feststellung. Es wird behauptet: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein weltoffenes Land mit einer starken, wehrhaften Demokratie. Unser Grundgesetz garantiert allen Menschen ein Leben in Würde und Freiheit, mit Gleichheitsrechten und der Achtung ihrer Menschenrechte.“
Hier wäre der Konjunktiv als Fluchtpunkt einer offenen, diskriminierungsfreien Gesellschaft mit antirassistischer Haltung angemessen. In diesem Sinne formuliert, hätte es als Anspruch an die Institutionen, ihre Bürger_innen sowie für die Gesellschaft als Ganzes dienen können. Denn wenn wir uns die Forschungsreihe „Deutsche Zustände“ (2002-2012), die immer wieder aktualisierten Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung-Studien (2006-2021) sowie die Mitte- bzw.
Autoritarismus-Studien der Universität Leipzig (2013-2020) und zudem lokale Monitore wie den Sachsen-Monitor (2016-2018) oder den Thüringen-Monitor (2000-2021) genau anschauen, ist die Behauptung aus dem Einstiegssatz falsch. Solche Sätze klingen in den Ohren der Angehörigen der Opfer des NSU, von Hanau, von Halle, vor dem Hintergrund des Mordes an Walter Lübcke sowie vieler weiterer Morde, rassistischer und anderer politischer Gewalt schlichtweg unwahr. Sie zeigen sich blind für komplexe Realitäten und verharmlosen die gesellschaftliche Wirklichkeit im Jahr 2022. Hier muss im weiteren Gesetzesformulierungs-Prozess eine klarere Anerkennung der Realitäten von Rassismus, Antisemitismus, Antifeminismus, antidemokratischen Haltungen und Aktivitäten dringend erfolgen, sonst steuert die Gesetzesinitiative in diesem Hinblick von Anfang an in eine falsche Richtung (vgl. KompRex 2022: 2-3).
- Begriffskritik und die Notwendigkeit von Begriffs-Schärfungen
2.1. Totalitarismus reloaded? Rückfall in die alten Zeiten der BRD-Kampf-Methodik
Das Papier behauptet in einem Spiegelstrich „Gegenstand der Maßnahmen mit gesamtstaatlicher Bedeutung sollen insbesondere sein:“ „die Bekräftigung des Grundgesetzes als Gegenentwurf zum Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes, insbesondere das Eintreten auf allen Ebenen gegen jede Form des Antisemitismus und Rassismus.“ Warum jetzt der Begriff des „Totalitarismus“ wieder benutzt wird, erschließt sich analytisch in keinster Weise. Die Totalitarismus-Theorie und ihre Apologet_innen sind eigentlich seit den 1980er Jahren marginalisiert. Gerade die Relativierung Nationalsozialistischer Verbrechen wie im Historiker-Streit führte zu einer berechtigten Fundamentalkritik. So wird mit diesem methodischen Zugriff kaum noch ernsthafte Forschung betrieben (vgl.: Butterwegge 2010, Roth 1999, Wippermann 1997).
Warum wird beispielsweise nicht mit innovativen Erklärungsmodellen wie dem Faschismus-Ansatz (vgl. u.a. Griffin 1991, 1998, 2004, Griffin et. al. 2006, Mosse 1999, Paxton 2004, Sternhell 1999, Wörsching 2020) oder dem Begriff des völkischen Nationalismus (vgl. u.a. Kauffmann et. al. 2005, Kellersohn 1994, Kellersohn et. al. 2014) gearbeitet oder zumindest dem Rechtsextremismus-Begriff, der Kontinuitätslinien zwischen dem historischen Nationalsozialismus und aktuellen Erscheinungsformen in AfD und bei anderen Akteuren, Personen und Netzwerken sichtbar macht.Zuletzt wurde das z.B. bei der Auseinandersetzung mit Max Otte überzeugend umgesetzt (Assheuer 2022). Die Langsamkeit der Institutionen beim Gebrauch neuer und vor allem zeitgemäßer Begrifflichkeiten auf dem Stand der Forschung wird hier erneut deutlich. Es liegen seit Jahren Vorschläge für alternative Begrifflichkeiten und Forschungsdesigns vor, sie müssen nur genutzt werden (vgl. u.a. Forum für Kritische Rechtsextremismusforschung 2011).
2.2. Extremismus als Catch-all-Begriff statt der nötigen Problemschärfe
In dem Papier wird der hochgradig problematische Extremismus-Begriff acht Mal erwähnt. Zum Beispiel wird als eine Maßnahme „die Verhinderung und Vorbeugung der Entstehung jeglicher Form von Extremismus, demokratiefeindlichkeit und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sowie der damit verbundenen Diskriminierungen“ formuliert.
Auch Innenministerin Nancy Faeser sagt in der dazugehörigen Pressemitteilung: „Wir wollen unsere Demokratie von innen heraus stärken. Menschenverachtung, Demokratiefeindlichkeit, Hass und Intoleranz zu begegnen, ist nicht allein eine Aufgabe von Polizei und Justiz. Es ist an uns allen, unsere vielfältige und offene Gesellschaft zu verteidigen. Das ist der beste Schutz gegen Extremismus.“ (BMI 2022)
Mit einem Extremismus-Ansatz Rassismus und Rechtsextremismus zu bekämpfen, verharmlost das Problem, produziert eine scheinbar demokratische und ohne Ungleichwertigkeit existierende Mitte der Gesellschaft und schiebt solche Probleme an ihre vermeintlichen Ränder (vgl. BAGD 2022: 2). Damit ist weder der alltäglichen Arbeit der Beratungsstrukturen, den Opferberatungsstellen, noch einer zeitgemäßen Wissenschaft gedient, die den Begriff schon seit mehr als einem Jahrzehnt kritisiert hat und ihn nicht benutzt.
Was Extremismus ist und was das Ganze mit Demokratie, Bekämpfung von Rassismus und anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu tun hat, wird im Papier weder ausbuchstabiert noch definiert. Der analytisch extrem problematische Begriff des Extremismus wirkt deshalb teilweise wie ein Füllwort bei der Produktion des Diskussionspapiers. Eigentlich könnte der Begriff einfach komplett aus dem Papier gestrichen werden, die Sätze würden immer noch Sinn ergeben und wären analytisch plötzlich präziser und tiefenschärfer. Es kann deshalb nur gehofft werden, dass der Anspruch der „wissenschaftlichen Begleitung“ des Demokratiefördergesetzes und seiner Umsetzung auch für den weiteren Gesetzesprozess und das Gesetz selber beherzigt wird.
- Präventionsparadigma und Extremismusprävention im Sicherheitsstaat
Das Präventionsparadigma (vgl. Leanza 2017, Bürgin 2021) lässt sich auch im aktuellen Diskussionspapier überall wiederfinden. Dieses Paradigma ist aus verschiedenen Perspektiven problematisch, die im Folgenden weiter erklärt werden: 1. Demokratietheoretisch als Szenario einer formierten Zivilgesellschaft; 2. Machtkritisch mit dem Staat als Teil einer umfassenden Kontrollgesellschaft; 3. Normalitätskritisch mit dem Präventionsparadigma als Ausschlussmechanismus devianten Verhaltens diesseits des Erlaubten bzw. normalen.
3.1. Das Papier ist zunächst realistisch: „Der Staat kann zivilgesellschaftliches Engagement nicht erzwingen, er kann es aber mit guten Rahmenbedingungen fördern und ermöglichen.“ Das heißt aber auch, dass der Staat die Rahmen setzt, was gutes und richtiges Engagement ist, was der Prävention dient und was nicht. Das hat aber mit der Forderung nach einer möglichst unabhängigen Zivilgesellschaft nichts zu tun. Im Gegenteil wird so die Herstellung einer formierten
Zivilgesellschaft erst ermöglicht. Dies meint, dass der Staat und andere machtpolitisch vorherrschende Strukturen der Zivilgesellschaft einen Raum bzw. Rahmen vorgeben, in der sie sich bewegen dürfen, sich sozusagen formieren können. Dabei werden die Grenzen des Raumes, in der sich die Zivilgesellschaft äußern und aktiv werden kann von Staat und Machtstrukturen bestimmt. Die vermeintliche Autonomie der Zivilgesellschaft wird durch diese Vor-Formierung des politischen Raumes quasi abgeschafft oder zumindest massiv eingeschränkt (vgl. Roth 2002: 350, Widmaier 2022: 5).
Das Papier verspricht weiter: „Durch die Schaffung dieser gesetzlichen Grundlage für Maßnahmen zur Stärkung der Demokratie, zur Prävention jeglicher Form von Extremismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sowie zur Vielfaltgestaltung sollen die dringend notwendige Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen und die damit verbundene nachhaltigere Absicherung der entsprechenden Maßnahmen gewährleistet werden.“
Doch wer garantiert bei der richtigen, aber höchstens hinreichenden Forderung nach „Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen und die damit verbundene nachhaltigere Absicherung der entsprechenden Maßnahmen“ die Unabhängigkeit der Fördermittelentscheider_innen sowie die freien Zugänge zu diesem Förderbedingungen? Dazu ist
in dem Papier leider nichts formuliert.
Doch genau diese Unabhängigkeit auch gegenüber den staatlichen und Verwaltungsstrukturen muss eine zentrale Forderung sein, um unabhängige Beratungsstrukturen im Bereich Antirassismus, Antisemitismus, antidemokratischen Wirkens sowie anderen Merkmalen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu fördern. Denn auch in diesem Zusammenhang muss kritisch gefragt werden, „… , ob von Politik überhaupt noch gesprochen werden kann oder ob Bildungsarbeit [und Beratungsstrukturen] zum Teil einer polizeilichen Ordnung geworden [sind], die
mit dem Leitbegriff der „Extremismusprävention“ durchgesetzt [werden].“ (Bürgin 2021: 10)
3.2. Der Staat droht hier als Teil einer umfassenderen Kontrollgesellschaft weiter in eine Richtung zu transformieren, die für eine Demokratisierung der Gesellschaft im Rahmen eines Demokratiefördergesetzes kontraproduktiv sein wird. So steht im Diskussionspapier: „Ein Rechtsanspruch auf Förderung in finanzieller oder auch sonstiger Form soll und kann durch ein derartiges Gesetz jedoch nicht begründet werden. Vielmehr soll auch weiterhin die jeweils zuständige Bewilligungsbehörde aufgrund ihres pflichtgemäßen Ermessens im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel über eine Förderung entscheiden.“ Die Kontrolle und Verwaltung der Mittel obliegt also letztendlich staatlichen Institutionen – mit den voraussichtlich gleichen Problemen wie jetzt – und ohne demokratische Kontrolle seitens der Zivilgesellschaft oder Wissenschaft. Zudem gibt es weitere Fördervoraussetzungen, die Gefahren bergen: „Gefördert werden sollen sowohl juristische Personen des öffentlichen Rechts, als auch jene des privaten Rechts, wobei die letztgenannten als steuerbegünstigt im Sinne der Abgabenordnung anerkannt sein müssen.“ Bürgin (2021: 10) analysiert dazu: „Die Politik hat sich weitgehend auf die Ebene der Förderpolitik verschoben und wird dort von Regierung und Verwaltungen in ein diffuses Gebiet aus Programmen, Zuwendungsauflagen, Kontrolle der Mittelverwendung und selektiver Wirkungsevaluation verschoben. Bildungsträger, ihre Mitarbeiterinnen und Teilnehmer innen sind ‚Letztempfanger von Zuwendungen‘ bzw. hoffen darauf. Nur im Ausnahmefall wird ihr Handeln politisch im Sinne einer öffentlichen Auseinandersetzung über die politischen Ziele ihrer Bildungsarbeit.“ Wie verhindert werden soll, dass diese Jahre etablierte Kontrollgesellschaft nicht in die neue Demokratiegesetzgebung weiter eingeschrieben wird, bleibt damit offen (vgl. Bürgin 2021: 65ff.) Hier muss seitens engagierter Wissenschaft und aus Politik und Zivilgesellschaft massiver politischer Druck ausgeübt werden, sonst werden die förderpolitischen Geländegewinne ein Pyrrhussieg in der weiteren Stärkung kontrollgesellschaftlicher Mechanismen. Hier tut sich ein sehr fundamentaler Widerspruch auf zu den eigenen Ansprüchen „die Demokratie in Deutschland als Gesellschaftsform und Form des Zusammenlebens weiter zu gestalten, sie zu schützen und für aktuelle Herausforderungen …zu stärken“.
3.3. Wir sehen diese oben beschriebene Entwicklungen nicht nur im Bereich politische Bildung:„Die präventive Politik schafft Strukturen, um Zukunft zu bestimmen und abweichendes Verhaltenverhindern zu können. Es geht nicht nur um sozial abweichendes Verhalten, sondern auch umpolitisch abweichendes Verhalten, das als „extremistisch“ bezeichnet wird. In Demokratien darf esaber keine Benachteiligung nicht-gesetzeswidriger Positionen durch den Staat geben.“ (Bürgin2021: 156) Diese Trends sind mit großer Sorge zu betrachten, verengen sie doch in derGesellschaft die Räume von politischen Auseinandersetzungen und dem Ringen um ein mehr anDemokratie. Hier wir ein Kern unserer Demokratie als Lebensform berührt: „ … das Recht, Politikzu machen und Zukunft zu gestalten.“ (ebd.) Genau mit so einem Ansatz argumentiert auch dasDiskussionspapier: „Der Staat kann zivilgesellschaftliches Engagement nicht erzwingen, er kannes aber mit guten Rahmenbedingungen fördern und ermöglichen.“ Denn hier ist im Umkehrschlussklar, dass er auch mit den benannten Rahmenbedingungen Verhalten und zivilgesellschaftliches Agieren verhindert kann, in dem er Mittel in eine bestimmte Struktur hinein gibt und eine andereInitiative nicht fördert. Dass hier angepasste(re) Vereine und Institutionen eher in die Förderlogikim Sinne der bereits benannten formierten Zivilgesellschaft passen, ist offensichtlich. Doch dieMachtverhältnisse, um das zu ändern, sind ungleich verteilt. Dass der Staat hier ohne harteAuseinandersetzungen Macht abgibt, davon ist nicht auszugehen.
- Was wird unter Demokratie verstanden?
Das Demokratieverständnis des Diskussionspapiers vermittelt einen widersprüchlichen Eindruck: Einerseits werden Menschenrechte und andere universelle Kategorien als normative Fluchtpunkte ins Feld geführt. Daran ist wenig zu beanstanden. Auch der Analyse ist zuzustimmen, dass die „Grundpfeiler der Demokratie in Deutschland … keineswegs selbstverständlich“ sind. Weiter wird richtig behauptet: „Sie müssen immer wieder von Neuem mit Leben erfüllt, gelebt und gelernt, gestärkt, geschützt und gefördert werden. Deutschland braucht demokratisches Engagement sowie überzeugte Demokratinnen und Demokraten.“
Auch diese programmatische Aussage im Papier macht zunächst Hoffnung auf ein umfassendes und zeitgemäßes Demokratieverständnis: „Die Bundesregierung ist entschlossen, die Demokratie in Deutschland als Gesellschaftsform und Form des Zusammenlebens weiter zu gestalten, sie zu schützen und für aktuelle Herausforderungen […] zu stärken. Die Gestaltung und Förderung der Demokratie ist aber nicht allein staatliche Aufgabe, sondern ein gemeinsames Anliegen des Staates und einer lebendigen, demokratischen Zivilgesellschaft.“ Dass Demokratie nicht nur als „Gesellschaftsform“, sondern auch als „Form des Zusammenlebens“ definiert wird, sowie die Rolle der Zivilgesellschaft anerkannt wird, kann auf der positiven Habenseite notiert werden (vgl. BAGFW 2022: 2). Allerdings fällt auch hier auf, dass erstens Demokratie als „Form“ und nicht von ihrem Inhalt her definiert wird, was aber in Zusammenhang zu bringen wäre. Zweitens werden Zivilgesellschaft und Staat immer in einem „gemeinsamen Anliegen“ zusammen gedacht. Dies mag theoriepolitisch sogar vernünftig sein, aber in einem Papier, das das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft definiert, sollte doch versucht werden, beide Felder in einem Konfliktverhältnis zu verorten. Was passiert beispielsweise, wenn Staat und (Teile der) Zivilgesellschaft kein gleiches Verständnis von Demokratie, Menschenrechten oder Umwelt- und Sozialpolitik haben? Wie wird der Konflikt dann aufgelöst? Wird er seitens der Staatlichkeit machtpolitisch entscheiden – im Sinne der Negation dieses Konfliktes? In diesem Falle droht in gleicher Weise die Entwicklung zu einer formierten Demokratie. Denn zudem wird seitens des Staates in dem Diskussionspapier gefordert, u.a. „die Aktivierung, Erhaltung, Förderung und Stärkung demokratischer Werte und Kultur, des demokratischen Bewusstseins sowie des Verständnisses von Demokratie, ihrer Funktionsweisen und ihrer Bedeutung für die Freiheit“ als „Gegenstände der Maßnahmen mit gesamtstaatlicher Bedeutung“ zu definieren. Hier werden problematische Vorstellungen „des Verständnisses [sic!]“ von Demokratie deutlich. Dies vor allem vor dem Hintergrund, wenn wir Demokratie im positiven Sinne als prozesshaft betrachten. Aus genau dieser Dynamik heraus kann sich die Konflikthaftigkeit von Gesellschaft, sowohl Prozesse von mehr Demokratisierung oder auch weniger Demokratisierung entwickelt werden – je nach den Kräfteverhältnissen in der Gesellschaft. Aktuell sind u.a eher staatliche und gesellschaftliche Regression zu betrachten, was noch mal die umkämpfen Felder in Zivilgesellschaft und auch der Gesamtgesellschaft uns deutlich vor Augen führt (vgl. Geiselberger 2017, BAGD 2022: 2).
- Grundordnung statt Unordnung in der Demokratie
Wenig überraschend orientiert sich das Papier an dem Motto Grundordnung statt Unordnung in der Demokratie und somit stark an einem institutionellen und konservativen Verständnis von Demokratie.3 Das wird auch an weiteren „Maßnahmen mit gesamtstaatlicher Bedeutung“: veranschaulicht: „Die Vermittlung von Wissen über die Demokratie, ihre Verfahren und Institutionen, politische Bildung und demokratisches politisches Handeln anzustoßen sowie Teilhabemöglichkeiten zu schaffen“. Wie oben schon kritisiert, wird auch hier ein instrumentelles und institutionelles Verständnis von Demokratie aufgerufen. Anstatt Demokratie im Sinne von macht- und herrschaftskritischen Positionen zu definieren und wenigstens als Lebensform, die unseren Alltag bereichern und weiter demokratisieren könnte, wenn dies gefordert und gefördert werden würde, bleibt das Demokratieverständnis im Status quo stecken. Hier wird nicht Emanzipation der und in der Gesellschaft im Sinne eines erweiterten Verständnisses von Citoyen bzw. Citizenship gestärkt. Im Gegenteil, gefragtist der Bourgeois, und die braven Bürger_innen werden angesprochen, sich ihre vom Staat zugeteilten Räume der Demokratie anzueignen. Diese Vorstellung einer formierten Demokratie lässt den autoritären Charakter und das Top-Down-Verständnis von Demokratie und Regierung in der real existierenden Bundesrepublik Deutschland auch in diesen Abschnitten des Papiers sichtbar werden (vgl. Widmaier 2022: 5).
- Was für ein Verständnis von Zivilgesellschaft findet sich in dem Papier?
Daran anknüpfend ist auch das Verständnis von Zivilgesellschaft zu problematisieren: „Der Bundesregierung ist es wichtig, die Expertise der Zivilgesellschaft intensiv zu nutzen. Der 3 Vgl. zum einem Demokratieverständnis jenseits der Ordnung u.a. Derrida (1992) Mouffe (2007), Rancière (2002) sowie Buck (2011) und Schubert (2011). Austausch mit der Zivilgesellschaft im Bereich der Demokratieförderung soll daher weiterhin sichergestellt und dort wo nötig ausgebaut werden.“ Der Nutzen der Zivilgesellschaft für den Staat liegt deshalb letztendlich im Kampf gegen Extremismus und für den Erhalt der „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ sowie von Werten: „Zudem richten sich diese Phänomene gegen die vom Grundgesetz geschützte Grundordnung und die gemeinsamen Werte, die die Bundesrepublik als Ganzes ausmachen.“ Grundsätzlich wird gesagt: „Der Staat kann zivilgesellschaftliches Engagement nicht erzwingen, er kann es aber mit guten Rahmenbedingungen fördern und ermöglichen. Der Bund steht dabei in einer besonderen Verantwortung, da die zu beobachtenden demokratie- und menschenfeindlichen Phänomene nicht lokal oder regional begrenzt sind, sondern bundesweit und zum Teil international auftreten, sodass auch die Antwort darauf überregional sein muss.“ Auch Zivilgesellschaft ist schon längst über lokale und über regionale Grenzen hinweg – auch international – vernetzt. Und dies lässt sich nicht erst seit den Protesten von Seattle und Co., den Sozialforen in Porto Alegre, sowie der Umweltbewegung der letzten Jahre beobachten. Genauso ist die Zivilgesellschaft im Bereich Demokratieberatung schon längst bundesweit organisiert, zum Beispiel im Bundesverband Mobile Beratung. Die Impulse dazu kamen nicht vom Staat, sondern aus der Zivilgesellschaft selbst (vgl. KompRex 2022: 2). Hier wird so getan, als ob der Staat einen Überblick über Phänomene schafft, die er in der Realität aber nicht bzw. immer erst im Nachgang erzeugt.
7. Forderungen
- Wir brauchen deshalb ein Demokratiefördergesetz, das so flexibel ist, dass es Trends aus der Zivilgesellschaft aufnehmen kann (vgl. EKD etc. al. 2022: 2). Die Förderbedingungen und Förderstrukturen müssen so innovativ gestrickt sein, dass die neuen Phänomenbereiche und Innovationen (aus der Zivilgesellschaft kommend) auch mit einem auf Langfristigkeit setzenden Gesetz und seinen Rahmenbedingungen in Richtlinien sowie der Umsetzung und des Controlling in den Förderprogrammstellen (z.B. beim Programm Demokratie leben) aufgenommen werden
können (vgl. BAGD 2022: 3, BAGFW 2022: 3, KompRex 2022: 2).
- Wir brauchen eine Analyse jenseits des Extremismusansatzes sowie von nicht mehr zeitgemäßen Totalitarismus-Theorien. Wenn die Ministerien es nicht selber schaffen, eine Problemstellung mit solchen Begriffen auf der Höhe von Forschung und zivilgesellschaftlicher Expertise zu produzieren, wäre die Einbeziehung dieser Expertise in die Ministerien dringend erforderlich. Das sollte auch am Geld nicht scheitern.
- Wir brauchen eine offene und breite Analyse gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in der Bundesrepublik. Wir leben in einem rassistischen und diskriminierenden System, dass alltäglich und strukturell Menschen ausgrenzt, ihnen Gewalt antut.4 Ohne eine solche tiefgreifende Analyse, wie es um unsere Demokratie und unser tägliches Miteinander bestellt ist, braucht es als Antwort darauf kein Demokratiefördergesetzlichkeit von Seiten des Staates.
- Wir brauchen eine Förderstruktur für die Zivilgesellschaft, die diese gerade nicht umfassend kontrollieren und einhegen will (vgl. BMB 2022: 2-3). Der Staat hat sich weitestgehend aus dieser Regulierung der Zivilgesellschaft herauszuhalten (vgl. BAGD 2022: 3). Hier sollte das Motto gelten: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Oder anders formuliert: Sowenig Kontrolle wie möglich, so viel politische und aktivistische Freiheit wie möglich.
- Wenn es nicht ohne Grenzziehungen in der Gesellschaft und im Besonderen im Raum des Politischen geht – und nichts anderes bedeutet ein Demokratiefördergesetz in der Praxis, nämlich die Einschränkung eines vorher nicht geregelten politischen Bereiches – dann muss diese Grenzziehung mindestens zwei Kriterien genügen: Diese Grenzziehung muss erstens maximal transparent sein und für alle Akteure gleichermaßen gelten. Zweitens muss sie politisch begründet sein, z.B. anhand von Grenzziehungen wie den universellen Menschenrechten, den Grundrechten im Grundgesetz oder anderen transparent-normativen Kriterien (vgl. BAGD 2022: 4).
Autor: Stefan Kausch, politischer Berater, Leipzig, Kontakt: kausch@poege-haus.de Dipl.-Pol. Stefan Kausch, MA Kulturen des Kuratorischen, ist Politikwissenschaftler und kritischer Kurator, seit 20 Jahren in der politischen Bildungsarbeit, engagierten Wissenschaft, sowie seit über 10 Jahren in der Politikberatung und als Kulturmanager tätig.
Er ist Mitbegründer des Forums für kritische Rechtsextremismusforschung (FKR) und Mitherausgeber des Sammelbandes Ordnung. Macht. Extremismus (Wiesbaden 2011). Aktuell arbeitet er zu antidemokratischen Bildungsnetzwerken sowie zum Thema Corona und politischer Ausnahmezustand. Er ist Mitautor und Mitherausgeber der Studie Vielfalt im Blick – Ein Handlungskonzept für Vielfalt und Demokratie in Leipzig.
Literatur
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